Was bringt uns die Losgröße 1?

February 7, 2021
5 min
Industrie 4.0
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Eine Produktionslinie, die automatisch immer genau das produziert, was auch tatsächlich benötigt wird? Was nach kompliziert programmierten Maschinen und Anlagen klingt, ist in Wahrheit genau das Gegenteil dessen. Im vorangegangenen Artikel haben wir über eine „Industrie 4.0-Welt“ geschrieben und was der technologische Fortschritt für Auswirkungen in anderen Bereichen haben kann und wird. Wir haben beschrieben, wie der Produktionsprozess eines kundenindividuellen Fahrradlenkers durch den Einsatz von Industrie 4.0 gestaltet sein könnte. In diesem Artikel möchten wir die Hintergründe dieses Prozesses genauer beleuchten; definieren, was die individualisierte Produktion bedeutet und welchen Nutzen wir daraus ziehen können.

Begriffsdefinition Losgröße

Im Zusammenhang mit Industrie 4.0 wird oft davon gesprochen, dass man dadurch die „Losgröße 1“ mit industrieller Produktion erreichen möchte. Doch was bedeutet es überhaupt, mit Losgröße 1 zu produzieren? Dadurch wird eine Produktion beschrieben, die Einzelstücke fertigt. Im Zusammenhang mit industrieller Fertigung ist die Losgröße vor allem deshalb so interessant, weil die produzierenden Firmen nicht etwa dem Handwerk angehören, die oft von Haus aus individuelle Produkte fertigen, sondern aus der Massen- oder Serienfertigung kommen. Man könnte also sagen, dass die industrielle Produktion mit Losgröße 1 eine Massenfertigung von Einzelstücken beschreibt. Liegen beispielsweise in der Produktion von Laufschuhen Informationen über die Form der Füße, über die individuellen Laufbewegungen und das bevorzugte Laufterrain der Läufer vor, so können Schuhe produziert werden, die auf jeden Kunden individuell angepasst sind. Voraussetzung dafür ist die eindeutige Identifikation jedes Schuhs in einem digitalen Abbild und die Zuordnung der individuellen Informationen auf jenes Abbild. Das ist notwendig, damit in der Produktion der Schuhe die unterschiedlichen Fertigungsschritte den richtigen Schuhen zugeordnet werden können. Dieser informationstechnische Schritt hängt jedoch nicht zwangsläufig mit einer vollautomatisierten Produktion zusammen, da es im Laufe einer Fertigung prinzipiell keinen Unterschied macht, wie bestimmte Vorgänge ausgeführt werden. In einem Forschungsprojekt wurde eine Produktion aufgebaut, in der alle Fertigungsschritte modularisiert wurden. Nachdem ermittelt wurde, welche Schritte für die vollständige Fertigung der Schuhe notwendig waren, konnte entschieden werden, wo neben maschineller Fertigung auch manuelle Arbeitsschritte eingeplant wurden. Die genutzten Fertigungslinien, ob Maschine oder Mensch, nutzten das digitale Abbild jedes einzelnen Schuhs, um die vom Kunden vorgegebenen individuellen Anforderungen über die Beschaffenheit der Schuhe umzusetzen.

Vom Produzentenmarkt zum Verbrauchermarkt

Die Planung einer solchen Fertigung erscheint aufwändiger als eine Massenfertigung identischer Produkte, die den Konsumenten unabhängig von seiner Fußform angeboten werden können. Auch unter logistischen Gesichtspunkten ergeben sich Fragen der Produktion und Zustellung individuell produzierter Schuhe, wenn beispielsweise der Produktionsort weit vom Kunden entfernt ist. Das wirft die Frage nach dem Hintergrund der Produktion mit Losgröße 1 auf. Warum wird dieser Aufwand betrieben? Laut der emeritierten Professorin der Harvard Business School Shoshana Zuboff ergibt sich aus dem erlangten Wohlstand unserer Gesellschaft ein Wunsch zur Individualisierung der konsumierten Produkte. Im 20. Jahrhundert wurde demnach vor allem versucht, die Kosten von Produkten durch größere Stückzahlen zu verringern, um die Produkte möglichst vielen Menschen anbieten zu können. Heutzutage sei es anders als noch vor 100 Jahren wegen der gesunkenen Produktionskosten leicht, beispielsweise an einen Toaster oder ein Auto zu kommen. Konsumenten können sich wegen des breiten Angebots von Verbrauchsgütern aussuchen, ob sie ein günstiges oder ein teures Produkt kaufen wollen. Der Wert eines Produkts ergebe sich daher heutzutage dadurch, wie präzise das Verlangen des Individuums erkannt und erfüllt wird [1]. Der Markt verlagert sich daher unabhängig von Industrie 4.0 von einem Produzentenmarkt, in dem Waren produziert und angeboten werden, hin zu einem Verbrauchermarkt, in dem der Konsument die Produktion durch seine Wünsche steuert.

Da individualisierte Produkte dennoch nach wie vor in Konkurrenz zu womöglich günstigeren Produkten aus Massenfertigung stehen, muss die Industrie Möglichkeiten finden, individuelle Produkte zu fertigen, ohne dadurch die Produktionskosten maßgeblich in die Höhe zu treiben. Im Jahr 2019 gaben 14% der befragten Unternehmen zum größten Teil aus dem Maschinen- und Anlagenbau und der Elektro- und Automobilindustrie an, dass sie bereits in der Lage sind, Produkte mit der Losgröße 1 zu Kosten einer Serienfertigung herzustellen. Weitere 46% gaben an, dass ihnen dies in den nächsten Jahren gelingen wird. Die übrigen 40% planen dies entweder nicht oder schließen aus, dass es in ihrem Fall sinnvoll oder möglich ist. In der Studie wird angenommen, dass dies hauptsächlich Zulieferer sind, die beispielsweise einfache elektrische Bauteile oder Schrauben produzieren. Drei Viertel der Unternehmen schätzen zudem, dass individualisierte Fertigung ein wichtiges Thema in ihrer Branche werden wird [2].  

Produktmerkmale als Basis individualisierter Produkte

Seit Mitte der 90er-Jahre hat der Online-Handel stets größere Bedeutung gewonnen. Von 1,3 Milliarden Euro im Jahr 2000 hat sich der Umsatz im Online-Einzelhandel auf 53,3 Milliarden Euro im Jahr 2018 vergrößert [3]. Wegbereiter für diese Entwicklung ist der Aufbau von Online-Shops, in denen eigene Waren angeboten werden, und Vermarktungsplattformen, auf denen Produkte verschiedener Hersteller bestellt werden können. Grundlegender Bestandteil der Online-Shops und Plattformen ist die Präsentation der Waren mit Informationen über die Beschaffenheit oder Bildern und Zeichnungen der Produkte. Im Gegensatz zum stationären Handel müssen diese Informationen digital erfasst und dargestellt werden, damit die Kunden entscheiden können, welche Produkte sie kaufen wollen. Ein digitales Abbild von Produkten zu schaffen, ist somit ein zentraler Baustein des Wertschöpfungsprozesses. Dieses Abbild wird jedoch geschaffen, um den Handel mit den Produkten zu ermöglichen, nicht aber um der Produktion ein digitales Abbild für die Produktion zu liefern. Das Abbild wird also nicht vor der Produktion geschaffen und ist auch nicht kundenindividuell.

Im Online-Shop eMachineShop können Kunden mithilfe eines CAD-Programms Teile gestalten, die in beliebiger Losgröße mit verschiedenen Herstellungsmethoden hergestellt werden können. Diese Form der Individualisierung kann gewiss nicht auf alle Branchen umgesetzt werden, das Prinzip eines erstellten Datenmodells als Basis der Fertigung bleibt jedoch das gleiche. Bei der Produktion kundenindividueller Produkte müssen also Lösungen gefunden werden, das Datenmodell der Waren vor der Produktion zu gestalten und die dafür notwendigen Kundendaten zu ermitteln. Weil hinter einem Produkt oft viele verschiedene Hersteller und Zulieferer stecken, ist ein standardisiertes Datenmodell für die verschiedenen Teile eines Produkts sinnvoll, um schellen Austausch der Daten zu gewährleisten wie im Beispiel des Fahrradlenkers im vorherigen Artikel. Industrie 4.0 liefert ein Modell, das als Standard für die Abbildung von Produktmerkmalen dienen soll: Die Verwaltungsschale.

Wie die Verwaltungsschale als zentraler Standard aufgebaut ist, welche Grundgedanken ihr zugrunde liegen und warum sie eine flexibilisierte Fertigung mit Losgröße 1 ermöglichen kann, möchten wir euch in den nächsten Artikeln erläutern.

Referenzen
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Nicolai Maisch
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