Wie fängt man mit Industrie 4.0 überhaupt an? Das Referenzarchitekturmodell RAMI4.0

February 21, 2021
6 min
Industrie 4.0
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In den vorangegangenen Artikeln sind wir auf die Hintergründe, die Grundsätze und allgemeine Möglichkeiten der vierten Industriellen Revolution eingegangen. Wir haben erläutert, wie Produktionsprozesse in der Zukunft aussehen könnten und was es mit der Losgröße 1 auf sich hat. Doch wie fängt man mit Industrie 4.0 an? Wenn wir der Fahrradhersteller aus dem Beispiel wären, könnten wir anfangen, ein digitales Abbild zu schaffen, das uns als Grundlage für die Produktion dient. Wir könnten eine visuelle Oberfläche schaffen, in der unsere Kunden ihre individuellen Wünsche bezüglich der technischen Anforderungen, des Materials oder des Designs eingeben könnten. Produkt der Konfiguration wäre eine Datei, die als digitales Abbild für die Produktion diente. Würden wir eine automatisierte Fertigung umsetzen wollen, müssten also alle unsere Maschinen diese Datei verstehen und daraus Produktionsschritte ableiten können. Die Hersteller unserer Maschinen müssten ihre Maschinen also unserem erstellten firmeninternen Standard angleichen. Damit auch Zulieferteile in das Fahrrad (und in das digitale Abbild dessen) integriert werden können, müssten alle Zulieferer unserem Standard, wie wir die Merkmale des Fahrrads und dessen Einzelteile beschreiben, folgen. Möchten der Zulieferer oder der Maschinenbauer auch andere Fahrradhersteller beliefern, könnten sie unseren Standard jedoch nicht nutzen, weil unsere Konfigurationsdatei eine gänzlich andere ist als die anderer Hersteller. Sie müssten deren genutzten Standard nutzen oder einen eigenen entwickeln. Es würde also viel Mühe in die Anpassung und Übersetzung von digitalen Repräsentationen aller möglicher Gegenstände gesteckt werden.

Wir halten fest: Für Prozesse in Industrie 4.0 ist es notwendig, Informationen über Merkmale von Gegenständen digital in einem maschinenlesbaren Format abzubilden, das unabhängig vom Teilnehmer verstanden werden kann. Die Entwicklung dieses Formats kann nur firmen- und branchenübergreifend gelingen, da nur dann eine allgemeine Anerkennung als Standardformat möglich ist. Aktuell versucht man im Zuge von Industrie 4.0 neben anderen einen solchen Standard zu entwickeln. Um vor der Entwicklung schon einen Handlungsrahmen abzustecken, wurde das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 entwickelt – das RAMI4.0. Es soll dazu dienen, eine gemeinsame Vorstellung über die Perspektive von Industrie 4.0 zu erlangen und eine Orientierung zu erhalten, welche Möglichkeiten es bietet, an Industrie 4.0 zu partizipieren und welche grundsätzlichen Prinzipien und Anforderungen es gibt und wie sie angegangen werden. Es bietet die Möglichkeit, Gegenstände, Produkte und Services im Gesamtkonzept einzuordnen.

Dabei werden die wichtigsten Aspekte von Industrie 4.0 in drei Dimensionen abgebildet, die jeweils an allgemein anerkannten Standards angelehnt sind. In seiner Gesamtheit wirkt RAMI4.0 sehr kompliziert. Deshalb möchten wir im Folgenden auf die drei Dimensionen eingehen und zeigen, was sie bedeuten.

Erste Dimension - Produktlebenszyklus

Die erste Dimension konzentriert sich auf das Produkt und seinen Lebenszyklus. Der Lebenszyklus beginnt mit der ersten Idee des Produkts und endet mit seiner Demontage oder dem Verwerten der Einzelteile. Ein Gegenstand befindet sich daher stets auf einem bestimmten Punkt einer zeitlichen Achse seines Lebenszyklus. Diese Achse wird mit der ersten Dimension innerhalb des RAMI4.0 dargestellt. Bei der Beschreibung der Achse hat man sich am Prinzip von Typ und Instanz aus der objektorientierten Programmierung orientiert. Bis zur tatsächlichen Produktion wird das Produkt noch als Typ bezeichnet, da es noch nicht existiert, jedoch schon Informationen über sich enthält. Mit der Produktion wird es zur Instanz seines Objekttyps, also zu einem tatsächlichen Produkt. Ein Beispiel: Bei der Entwicklung eines neuen Smartphones wird festgelegt, welches Display verwendet wird, welche Größe es hat und vieles mehr. Produkt der Entwicklung ist ein Produkttyp. Mit der massenhaften Produktion werden dann tausende Instanzen des gleichen Typs erschaffen. Überarbeitet der Hersteller nach einer gewissen Zeit etwas an den Bauplänen des Smartphones, so ändert er den Produkttypen. Alle danach produzierten Handys instanziieren dann den neuen Produkttypen. Daher unterteilt man den Lebenszyklus Typ in die Entwicklung und die Modellpflege bzw. Überarbeitung eines Produkts. Mit der Produktion beginnt der Lebenszyklusabschnitt der Instanz. Der produzierte Gegenstand bekommt eine Seriennummer und steht zur Nutzung bereit. Die Nutzung lässt sich zudem weiter unterteilen in beispielsweise den Betrieb, die Wartung, die Optimierung oder das Recycling.

Produktlebenszyklus nach [1]

Fällt in der Beispielfabrik für Fahrräder beispielsweise ein Motor innerhalb einer Fertigungsmaschine aus, so wird das Fehlverhalten im digitalen Abbild der sich in der Phase der Nutzung befindlichen Fertigungsmaschine abgebildet. Der Maschinenbauer, der die Anlage hergestellt hat, könnte dann direkt für die Instandhaltung herangezogen werden. Der Zulieferer des Motors könnte durch Diagnosemöglichkeiten der Betriebsdaten (des Instanzmotors) dann eine Modellpflege durchführen und den Typen des Motors anpassen.

Zweite Dimension – Rollen und Funktionen

In der zweiten Dimension werden die Funktionen und Rollen eines Gegenstands in Form von sechs Schichten dargestellt. Die unterste Schicht – der sogenannte Asset Layer – beschreibt die reale Instanz eines Gegenstands. Man kann es sich also als real bestehendes Produkt vorstellen, das die Basis für alle übergeordneten Rollen und Funktionen bildet.

Die nächste Schicht (Integration Layer) beschreibt den Übergang von physischer in eine informationstechnische Welt. Hier wird also der digitale Zwilling bzw. seine Laufzeitumgebung des Gegenstands beschrieben.

In der dritten Schicht – dem Communication Layer – geht es um die Art des Zugriffs auf die Informationen des Gegenstands, also um die Frage, wie verschiedene Gegenstände Informationen austauschen können.

Die vierte Schicht beschreibt die Eigenschaften, die Parameter und Variablen eines Gegenstands. In ihm werden also vom Gegenstand genutzten und erzeugten Informationen beschrieben. Deshalb bezeichnet man diesen Layer als Information Layer.

Der Functional Layer in der fünften Schicht beschreibt die Funktionen eines Gegenstands – es wird also definiert, was ein Gegenstand kann.

In der höchsten Schicht – dem sogenannten Business Layer – werden geschäftliche Inhalte gesammelt. Darunter werden Rahmenbedingungen für das Verhalten eines autonom handelnden Gegenstands verstanden. Es wird also definiert, nach welchen Grundsätzen ein Gegenstand agieren soll, wenn er autonom handelt oder welchen organisatorischen oder rechtlichen Rahmenbedingungen er folgen soll.

Ein Gegenstand muss nicht zwangsläufig jede Schicht abdecken. Ist eine Autonomie in den Handlungsprozessen beispielsweise nicht geplant, muss dieser Layer nicht beschrieben sein. Die Layer-Dimension bietet also eine Möglichkeit, bestimmte Aspekte, Funktionalitäten und Rollen eines Gegenstands abstrakt aufzuteilen und voneinander abzugrenzen.

Architekturachse nach [2]

Dritte Dimension – Hierarchie

Die dritte Dimension beschreibt den repräsentierten Gegenstand vom einzelnen Produkt bis hin zur vernetzten Welt. Sie differenziert also nach dem Umfang des Gegenstands. Es wird also beispielsweise unterschieden zwischen einer Pumpe innerhalb einer Fabrik und der gesamten Fertigungslinie. Es findet also eine hierarchische Einordnung der beschriebenen Gegenstände statt. Die Hierarchie hat jedoch keinen Einfluss darauf, zwischen welchen Gegenständen eine Kommunikation stattfinden kann, was sie von der klassischen Automationspyramide abgrenzen soll.

Ein Beispiel

Durch das RAMI4.0 lässt sich ein Gegenstand, ein Prozess oder ein Teilaspekt dessen einordnen und im Gesamtzusammenhang abbilden. Dadurch werden Herstellern und Anwendern Handlungsfelder klarer, da sie ihren Arbeitsbereich abgrenzen können. Ein Beispiel: Ein Pumpenhersteller kann sein schon ausgeliefertes Produkt im Lebenszyklus in der Nutzung einordnen. Man weiß, dass es sich dabei um ein Feldgerät handelt – kann es also innerhalb der Hierarchie einer Produktionsanlage positionieren. Die Pumpe selbst befindet sich in der realen Welt – ist also ein physischer Gegenstand. Durch ihren digitalen Zwilling findet der Übergang in die digitale Welt statt. Der Hersteller kann die Informationen über die Pumpe innerhalb der Informationsschicht ansiedeln. Bei der Integration in ein Netzwerk sind unter Umständen die Funktionen und das Verhalten der Pumpe relevant.

Internationale Normung des Ansatzes

Das Referenzarchitekturmodell 4.0 wurde in eine deutsche Vornorm (DIN SPEC 91345) überführt, die als Grundlage für diesen Text dient [1]. Da es im Ausland, vor allem in China und den USA, ähnliche Ansätze gibt, wurde mit der IEC PAS 63088 eine internationale Vornorm geschaffen.

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